Blick zurück nach vorn

120 Jahre Erfurter Programm
Damals wie heute akitv: Demonstration gegen Atomkraft im Herbst 2010 vor dem Berliner Reichstag. Foto: Dirk Bleicker

Wieder ein runder Geburtstag: Seit 120 Jahren heißt die Partei Sozialdemokratische Partei Deutschlands, seit 120 Jahren kämpft sie für die Gleichberechtigung von Frauen und Männern – 120 Jahre, in denen Generationen für eine gerechtere Gesellschaft gestritten haben.

Mit dem Parteitag 1891 schaffte es die Sozialdemokratie aus der Illegalität, in die sie durch die Sozialistengesetze Bismarcks gedrängt worden war, zurück in die Freiheit. Sie traf mit ihren Forderungen den Zahn der Zeit: Die fortschreitende Industrialisierung bedeutete vielerlei Zumutungen für die Arbeiterschaft, die mit der Verabschiedung des Erfurter Programms einen politischen Gestaltungsanspruch im damaligen Kaiserreich erhob und bei einem großen Teil der Bevölkerung auf Zustimmung traf.

Ein Blick in das nur fünf Seiten umfassende Erfurter Programm zeigt: Vieles von dem, was damals niedergeschrieben wurde, trifft auch auf die heutige Gesellschaft zu und einige der zum Teil für die damalige Zeit revolutionären Forderungen warten bis heute auf ihre Umsetzung.

Industrialisierung, Kapitalismus, Unsicherheiten
Grob lässt sich das Programm in einen historisch-analytischen und einen praktischen politischen Teil unterteilen. Der Verfasser des analytischen Teils, Karl Kautsky, beschrieb die Vision einer sozialistischen Gesellschaft, deren Begründung er streng marxistisch argumentierte. Die Verdrängung der Kleinbetriebe durch die Industrialisierung führe zu „einem riesenhaften Wachstum der Produktivität der menschlichen Arbeit“. Gleichzeitig würden die Gewinne dieser Umwandlung der Kleinbetriebe zu Großbetrieben von den Kapitalisten und den Großgrundbesitzer eingestrichen werden. Proletariat und versinkende Mittelschichten würden dies als Unsicherheit ihrer Existenz bis hin zur Ausbeutung verspüren und die die allgemeine Unsicherheit würde „zum Normalzustand der Gesellschaft“ werden.

Damals wie heute gilt, dass es Aufgabe der Sozialdemokratie ist, Antworten auf ungerechte Zustände zu finden. Unsicherheit ist leider auch heute ein Merkmal unserer Gesellschaft. Die Situation auf dem Arbeitsmarkt ist unsicher, weil viele Menschen trotz einer Vollzeitbeschäftigung nicht genügend Geld zum Leben verdienen. Sie sind in Leiharbeit, prekären Arbeitsverhältnissen oder befristet beschäftigt, leben im ständigen Bewusstsein, dass, wenn es ihrem Unternehmen schlecht geht, sie die ersten sein werden, die gehen müssen.

Auf dieses Umfeld treffen besonders häufig junge Menschen, die eigentlich die Zukunft dieser Gesellschaft darstellen. Die wirtschaftliche Lage ist unsicher, weil Wachstumsprognosen nach unten korrigiert werden, auf eine Bankenkrise eine Staatenkrise folgt und niemand weiß, ob die Krise des Euroraums das Ende oder der Anfang einer noch größeren Krise ist. Die Europäische Union, die seit ihrem Beginn ein Inbegriff für Sicherheit und Stabilität gewesen ist, wird mit einem Mal zum Unsicherheitsfaktor. Kurzum das Vertrauen in zentrale Funktionsweisen der Gesellschaft, der Politik und Wirtschaft ist mindestens angekratzt.

Politischer Kampf der Arbeiterklasse
Als Lösung der Probleme sah Kautsky 1891 neben der Überwindung des kapitalistischen Systems die Politisierung der Arbeiterklasse. Gesellschaftliche Umwandlung könne nur durch die Arbeiterklasse geschehen, die ihren politischen Kampf organisierte, um so die politische Macht zu übernehmen. „Diesen Kampf der Arbeiterklasse zu einem bewussten und einheitlichen zu gestalten und ihm sein naturnotwendiges Ziel zu weisen – das ist die Aufgabe der Sozialdemokratischen Partei.“

Im Vergleich zu heute war der Einfluss der Arbeiterschaft auf das Erfurter Programm sehr groß. Sie war die zentrale gesellschaftliche Gruppe, für die Verbesserungen erreicht werden sollten. Diesen Einfluss heute noch auf die SPD geltend zu machen, ist aus mindestens zweierlei Gründen schwieriger. Einerseits ist die Arbeiterschaft gespaltener bzw. differenzierter als damals, was zur Folge hat, dass gemeinsame politische Forderungen schwieriger zu formulieren sind. Andererseits haben sich Gewerkschaften und SPD in den letzten Jahren voneinander entfernt, weil Teile der sozialdemokratischen Politik in der betrieblichen Realität nur schwierig umzusetzen sind und die Stammwählerschaft der SPD treffen.

Gleichberechtigung, Bildungspolitik, Erleichterungen der Arbeit
Politische Forderungen für die damalige Gegenwart entwarf Eduard Bernstein im praktischen Teil des Erfurter Programms. Neben der revolutionären Forderung nach einem allgemeinen, gleichen und direkten Wahlrecht für Frauen und Männer enthielt das Erfurter Programm den Appell, Frauen und Männer öffentlich und privatrechtlich völlig gleichzustellen und einen unentgeltlichen, verpflichtenden Besuch der Volksschulen für alle einzuführen. Die speziellen Forderungen für die Arbeiterschaft wie das Verbot der Erwerbsarbeit für Kinder, die Einführung des 8-Stunden-Tages und die Sicherung des Koalitionsrechts verdeutlichen den hohen Einfluss der Arbeiterschaft auf die SPD.

Einige dieser Forderungen sind seit dem Bestehen der Bundesrepublik von SPD und Gewerkschaften zusammen umgesetzt worden. Einige behalten ihre Aktualität auch heute noch. Bildung ist für Sozialdemokratinnen und Sozialdemokraten das zentrale Thema einer gerechteren Gesellschaft. Schließlich werden die Debatten über kostenfreie Bildung von der Kita bis zur Universität im Wesentlichen durch die Sozialdemokratischen Landesregierungen vorangetrieben.

Bestes Beispiel ist dafür Nordrhein-Westaflen, wo nach der Abschaffung der Studiengebühren nun auch eine weitreichende Schulreform verabschiedet worden ist, die längeres gemeinsames Lernen ermöglicht. Die Diskussion um die Frauenquote und die Tatsache, wie schwer sich andere Parteien mit deren Einführung tun, spiegelt die Bedeutung dieses Themas und das notwendige Engagement der Sozialdemokratie für die Gleichberechtigung wider.

Was können wir aus dem Erfurter Programm für die Zukunft der Sozialdemokratie lernen?
Marie Jucharcz empfahl einst, „die Gegenwart an der Vergangenheit zu prüfen und sich an dem, was gut daran war, neu zu orientieren. Nicht, um in der Vergangenheit zu beharren, sondern immer wieder, um erneut für die Zukunft bereit zu sein.“

Sozialdemokratie muss der Gesellschaft wieder Sicherheit geben
Die Stärke der Sozialdemokratie ist es, einen umfassenden Gesellschaftsentwurf für ein gerechtes Miteinander aufzuzeigen. Dazu gehören richtige Antworten für die Zukunft der Europäischen Union, auf die Herausforderungen auf dem Arbeitsmarkt und zur Beteilung aller an unserer Gesellschaft. Die Sozialdemokratie muss den Menschen Hoffung geben und gerade der jungen Generation das Vertrauen in ein politischen System ermöglichen, welches es schafft, Finanzmärkte zu regulieren, Krisen zu meistern und gerechteres Zusammenleben zu gestalten. Die SPD muss sich wieder trauen, klare Positionen zu beziehen und nicht in der vermeintlichen politischen Mitte mit zu treiben.

Gleichberechtigung der Frauen weiter vorantreiben – Einbindung von jungen Frauen in die Parteiarbeit
Die sozialdemokratische Forderung nach Gleichberechtigung von Frauen und Männern ist mittlerweile 120 Jahre alt. Dennoch sind noch einige Schritte zu vollziehen bis diese vollständig umgesetzt ist. Unabhängig davon, ob sich Ungleichheiten auf die Arbeitswelt beispielsweise im Bereich Equal Pay beziehen, ob es um die Einführung der Frauenquote geht oder eine geschlechtergerechte Familienpolitik, die SPD muss sich dafür einsetzen. Doch auch intern muss die Beteiligung von jungen Frauen an der Parteiarbeit gefördert werden. Das Thema Junge Frauen in der SPD muss seinen festen Bestandteil in der Parteireform behalten. Als gutes und wichtiges Projekt für die Zukunft muss es mit Ehrlichkeit und viel Energie auch von der Parteispitze unterstützt werden.

Einigende Kraft der SPD für die Arbeiterbewegung nutzen
Gewerkschafterinnen und Gewerkschafter sind mittlerweile weniger aktiv in der SPD. Ihr Engagement ist aber für die Ausrichtung der Partei und ihrer politischen Diskussion an der betrieblichen Realität enorm wichtig. Historisch betrachtet ist der gemeinsame Urspruch die Arbeiterbewegung, die für bessere Arbeitsbedingungen und eine gerechtere Entlohnung kämpfte – die Gewerkschaften, als betrieblicher Arm und die SPD, als politischer Arm der Arbeiterschaft. Um Gewerkschaften und SPD nach schwierigen Zeiten wieder näher zusammen zu führen, muss sich die SPD auf ihre im Erfurter Programm festgeschriebene einigende Kraft zurückbesinnen. Im Gegensatz zur momentanen Regierung kämpfen sowohl Gewerkschaften als auch SPD für eine gerechtere Gesellschaft – ein gemeinsamer Kampf mit Blick auf das Wahljahr 2013 sollte das Ziel sein.